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«Disruptive Innovation»: Wie neuartige Technologien Industrien umwälzen
01.05.20
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«Disruptive Innovation»: Wie neuartige Technologien Industrien umwälzen
01.05.2020

«Disruptive Innovation»: Wie neuartige Technologien Industrien umwälzen

Nur durch fortwährende, radikale Innovation kann ein Unternehmen langfristig bestehen.

Sei es die Übernachtungsplattform AirBnb, der Musikstreamingdienst Spotify oder Apples iPhone – sie alle erschütterten mithilfe bahnbrechender Innovation ganze Industrien und sind heute aus unserem Alltag kaum mehr wegzudenken. Neue Schnittstellen, beispiellose Benutzerfreundlichkeit und zukunftsweisende Technologien nutzten sie als Chancen, gestandene Unternehmen in Bedrängnis zu bringen. Fachjournalisten loben die gewaltigen erfinderischen Fähigkeiten dieser Firmen immer wieder aufs Neue. Doch woher kommt diese Innovationskraft? Oder eigentlich spannender: Warum lässt sie sich bei vielen einst führenden Unternehmen nicht mehr beobachten?

So bahnbrechend die genannten Firmen auch sind, so alt ist auch das Phänomen der «Disruptiven Innovation». Der verstorbene Harvard-Professor Clayton M. Christensen widmete seine akademische Karriere der Untersuchung von revolutionären Erfindungen im betriebswirtschaftlichen Kontext. Sein Buch «The Innovator’s Dilemma» gilt heute als Standardwerk für Business Innovation und ist in den Bücherregalen der bedeutendsten Vordenker unserer Zeit wie Jeff Bezos oder Malcom Gladwell zu finden. Bloomberg Businessweek betitelte Christensens Lebenswerk gar als «sakral für Silicon Valley-Unternehmer».

Christensen beschreibt in seinem Buch, dass «sustaining» Innovation, also die kontinuierliche Verbesserung von bestehenden Produkten nicht reicht, um das Überleben einer Firma sicherzustellen. Nur durch fortwährende, radikale Innovation und das Ergründen neuer Märkte kann ein Unternehmen langfristig bestehen. Er fasste seine Analyse in fünf Prinzipien zusammen:

  1. 1. Für Ressourcen sind Unternehmen von Kunden und Investoren abhängig.

Florierende Unternehmen glauben meist, dass ihre umsatzstärksten Produkte auch zukunftsträchtig sind. Dadurch werden Innovationsressourcen hauptsächlich dafür eingesetzt, bisher erfolgreiche Produkte weiter zu verbessern. Ideen, die jedoch auf dem Markt anfänglich wenig Anklang finden, werden systematisch im Keim erstickt. Folglich fällt es florierenden Unternehmen oft schwer, genug Ressourcen für die Innovation grundlegend neuer Produkte aufzuwenden.

  1. 2. Kleine Märkte lösen die Wachstumsprobleme grosser Unternehmen nicht.

Weil auch schnellwachsende, neue Märkte – relativ zur eigenen Unternehmensgrösse – anfänglich zu klein sind, zögern zahlreiche grössere Unternehmen bei der Penetration junger Märkte, bis diese «gross genug» oder gar gesättigt sind. Durch dieses Dilemma verpassen sie wichtige Erstanbietervorteile («First-Mover-Advantages»). Diese umfassen beispielsweise einen signifikanten Wissensvorsprung oder besseren Zugang zu marktrelevanten Ressourcen. Disruptive Innovation hilft mutigen Unternehmen diesen Vorsprung zu erlangen, was sich in neuen Märkten als äusserst lukrativ erweisen kann. Erstanbietervorteile erlauben innovativen Unternehmen zu Beginn nämlich enorm hohe Wachstumsraten. Ausserdem wird es zunehmend schwierig, dem First-Mover Kunden abzugewinnen. Für dieses Phänomen exemplarisch ist zum Beispiel Netflix. Trotz enorm kapitalstarker Konkurrenz durch Apple, Disney oder Amazon gewinnt der Streamingdienst laufend Kunden dazu. Dies lässt sich auf die Konzentration der Innovationskraft auf einen einzigen Markt, eine klare Positionierung und entsprechendes Know-how zurückführen.

  1. 3. Märkte, die nicht existieren, können nicht analysiert werden.

Profunde Marktanalyse und den Erkenntnissen entsprechende Geschäftsmassnahmen gehören zum Grundrepertoire eines guten Managers. Diese Praktiken sind enorm wertvoll, wenn es darum geht bestehende Produkte zu verbessern und den Marktgegebenheiten anzupassen. Dabei ist allerdings anzumerken, dass die Analyse durchwegs auf prüfbaren Daten (z.B. historische Umsatzzahlen, Gewinnmargen, Marktpotential) fundiert. Dies ist für neue Märkte, die überhaupt erst durch disruptive Innovationen hervorgebracht werden, nicht möglich. Investitionsprozesse sind in den meisten Unternehmen zahlengetrieben. Zudem ist die Bearbeitung neuer Märkte anfänglich oft defizitär oder hilft beim Erreichen von kurzfristigen Umsatzzielen kaum. Dies führt zur Lähmung radikaler Erneuerung und damit werden neue Märkte zu zögerlich ergründet.

  1. 4. Die Kernfähigkeiten eines Unternehmens bestimmen seine Schwächen.

Wenn erfolgreiche Unternehmen merken, dass grundlegende Innovation nötig ist, werden meist Mitarbeiter herangezogen, die sich als kompetent erwiesen. Allerdings basiert der Erfolg vieler Unternehmen nicht auf einzelnen Mitarbeitern, sondern auf Kernkompetenzen, also betriebsinternen Prozessen und Unternehmenswerten. Mitarbeiter sind austauschbar, Prozesse und Werte sind starr. In anderen Worten: Wenn Innovation nötig ist, müssen auch performante Prozesse und Werte überdacht werden und nicht nur Projektzuteilungen. Abhilfe kann hier die Abkoppelung von Innovationsteams bringen. Google delegiert beispielsweise sogenannte «Innovation Labs», die im realen Kontext des Konzerns aber unabhängig und ohne finanziellen Druck an Projekten arbeiten. So werden quasi interne Startups hervorgebracht, die auf eigenen Kernkompetenzen gedeihen können.

  1. 5. Der technologische Fortschritt entspricht nicht immer den Kundenbedürfnissen.

Unternehmen versuchen meist, die technologischen Features der bestehenden Produktpalette zu verbessern und vernachlässigen dabei die tatsächlichen Bedürfnisse der Kunden. Nutzen, Handhabung, Verlässlichkeit und nicht zuletzt Preise dominieren in gesättigten Märkten meist die Kaufentscheidung – technische Spezifikationen geraten dabei zunehmend in den Hintergrund. Weil technologischer Fortschritt alleine keine Kundenbedürfnisse abdeckt, darf er nicht als primäres Verkaufsargument dienen. In ihren Bemühungen, sich trotzdem durch technologischen Fortschritt gegenüber der Konkurrenz in margenstarken Märkten zu behaupten, überfordern erfolgreiche Unternehmen oft ihre Kunden. Nicht selten führt dies zu einem Vakuum im Tiefpreissegment, welches sich mutige Unternehmen mit grundlegend neuen Produkten zunutze machen.

Fallbeispiel: Wie Risikoscheu und Lethargie Polaroid in die Insolvenz trieben

Am Beispiel der Festplattenindustrie macht Christensen deutlich, dass disruptive Innovation auch während des 20. Jahrhunderts immer wieder grosse Opfer forderte. Die Beispiele gescheiterter Unternehmen in unterschiedlichsten Industrien sind zahllos. Während es bei der Festplattenindustrie meist Jahrzehnte dauerte bis eine veraltete Technologie vollständig ersetzt wurde, gibt es auch Fälle, in denen der Wandel deutlich radikaler vonstattenging. Polaroid bietet sich hier als Musterbeispiel an. Das Unternehmen galt lange als eines der marktführenden Unternehmen der Fotografie-Welt mit Monopolmacht für Sofortfotos. Heute gilt Polaroid aber als exemplarisches Unternehmen, das die Digitalisierung verschlafen hat. Christensens Leitsätze haben sich bei Polaroids Untergang weitgehend bewahrheitet.

1985 wandte sich der damalige CEO Israel Macallister Booth in einem Brief an seine Investoren, die aufgrund der andauernden Digitalisierungswelle zunehmend am Geschäftsmodell von Polaroid zweifelten. Sofortfotografie bleibe ein menschliches Grundbedürfnis, beteuerte er – wortwörtlich. Der Markt für Digitalfotografie steckte zu dem Zeitpunkt noch in den Kinderschuhen. Polaroid war sich dem immensen Potential der neuen Technologie nicht bewusst, zumal keine historischen Zahlen verfügbar waren. Gleichzeitig war das Unternehmen mit seiner Sofortfotografie dermassen erfolgreich, dass es unter allen Umständen an seiner Strategie festhalten wollte. Man beobachtete zwar das Marktgeschehen, reagierte aber nur zögerlich oder spottete gar über die Konkurrenz. Die tatsächlichen Kundenbedürfnisse – vor allem mit Blick in die Zukunft – wurden kaum hinterfragt. Zudem war insbesondere der Verkauf von Filmkassetten für Polaroid lukrativ. Dieser wäre bei einem Wechsel zu digitaler Technologie natürlich entfallen. Die Welle der Digitalisierung mitzureiten war für das Management insgesamt also keine Option.

Polaroid war damit leichte Beute. Das ganze Unternehmen war auf ein einziges Produkt gestützt, das man zu perfektionieren versuchte. Innovationsressourcen wurden dementsprechend allokiert. Die Konkurrenz hingegen war mutig und investierte in mehrere Projekte gleichzeitig. Der Wandel zur Digitalfotografie war unaufhaltsam, doch Polaroid präsentierte erst nach der Jahrtausendwende seine erste Digitalkamera – 20 Jahre später als Sony. Mehrere Jahre potentieller Innovation waren verloren und der Rückstand zu den Mitbewerbern kaum mehr aufzuholen. Wichtige Patente waren längst vergeben, als Polaroid versuchte im neuen Markt Fuss zu fassen. Den Erstanbietervorteil beanspruchte die Konkurrenz. Überheblichkeit, Trägheit und Risikoscheu wurden dem Fotografie-Giganten zum Verhängnis. Polaroid war nicht für die Zukunft gerüstet und wurde von der neuen Technologie erbarmungslos überrollt. Das Muster entspricht eindeutig Christensens Beschreibung.

Polaroids Insolvenz kurz nach der Jahrtausendwende war die logische Konsequenz. Innovation bedeutet eben Aktion und nicht Reaktion – wer langfristig Bestehen will, muss Risiken eingehen.

 

Autor: Raffael Huckele, AarauInvest AG

Aarau, 01. Mai 2020

 

Quellen:

Christensen, C. (2016). The Innovator’s Dilemma: When new technologies cause great firms to fail (3 ed.). Cambridge: Harvard Business School Publishing.

Christensen, C. (2018). The Innovator’s Solution: Creating and sustaining successful growth. Cambridge: Harvard Business School Publishing

Mawdsley, A. (2015, February 04). Despite epic head-start in digital imaging, Polaroid fails to make transformation to digital cameras. Abgerufen am 17. April von:          http://www.hbs.edu/openforum/openforum.hbs.org/goto/challenge/understand-digital-transformation-of-business/despite-epic-head-start-in-digital-imaging-polaroid-fails-to-  make- transformation-to-digital-cameras.html

Reeves, M., & Harnoss, J. (2015). Don’t Let Your Company Get Trapped by Success. Boston: Harvard Business Review.

Smith, A. N. (2016, September 20). What was Polaroid thinking? Abgerufen am 16. April, 2020 von: https://insights.som.yale.edu/insights/what-was-polaroid-thinking.

Taylor, D. (2015). Strong brands outperform strong products: Lessons from Polaroid. Central Penn Business Journal, 13.

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